Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach über Reformen, Einfluss –
und seinen Abgeordnetenjob
Es gibt drei Theorien darüber, was ein Abgeordneter ist: ein
Vertreter des Volkes, ein Vertreter seiner Partei oder ein Vertreter der
Wahrheit und seines Gewissens.
Im Idealfall gibt es da keinen Widerspruch. Und der Konfliktfall
sollte die Ausnahme sein. Ich halte es für richtig, dass Parteien der
dominante Ort für politische Willensbildung sind. Sonst ist diese
Willensbildung nicht effizient organisierbar. Trotzdem muss der
Abgeordnete im Einzelfall von der Parteiposition und insbesondere von der
Fraktionsposition abweichen können.
Sie haben das gerade getan und die Gesundheitsreform abgelehnt. Das
gab Ärger.
Ich finde es richtig und alternativlos, dass der Fraktionsvorsitzende
versucht, ein einheitliches Abstimmungsverhalten herbeizuführen. Ich habe
auch schon Gesetzen zugestimmt, die ich inhaltlich nicht voll mittragen
konnte. Der Föderalismusreform etwa, obwohl ich der Meinung bin, dass sich
dadurch bei der dringend nötigen Bildungsreform nichts verbessert, sondern
vieles verschlechtert. Es gibt aber Situationen, wo es um die
Glaubwürdigkeit des Abgeordneten geht. Und bei denen es sich für den
einzelnen um eine Gewissensfrage handeln kann, auch wenn sie dies für
andere nicht ist. Bei der Gesundheitsreform sind wir an diesem Punkt. Ich
halte das, was am Freitag beschlossen wurde, für hochgefährlich. Es
betrifft die Lebensschicksale von Millionen und hat daher für mich die
gleiche Bedeutung wie die Frage eines Bundeswehreinsatzes in einem fernen
Land.
Die Gesundheitsreform ist für Sie so wichtig wie Krieg und Frieden?
Wenn die Abgeordneten außer bei Fragen von Krieg und Frieden immer im
Verbund abstimmen müssten, könnte es für die Fraktionsspitze gleich eine
Art Pauschalmandat geben. Bei Nicht-Gewissensfragen – die Fraktionsspitze
müsste dann möglicherweise noch definieren, was eine Gewissensfrage ist –
würde dann nicht mehr der einzelne Abgeordnete abstimmen, sondern die
Fraktionsspitze pauschal für alle Abgeordneten.
Im Gesundheitsausschuss sind Sie nicht nur Abgeordneter, sondern
Vertreter Ihrer Fraktion. Wäre es nicht konsequent gewesen, sich daraus
zurückzuziehen?
Ich bin ja nicht mit der gesamten Gesundheitspolitik der SPD in Konflikt,
sondern ich präge sie zu einem Teil mit. Das gilt übrigens sogar für das
jetzt beschlossene Gesetz. Einige meiner Vorschläge sind auch darin
umgesetzt.
Welche denn?
Etwa die Öffnung von Krankenhäusern für die ambulante Behandlung von
Krebspatienten. Oder die Verknüpfung von Zuzahlungen mit der Frage, ob der
Versicherte vorher Vorsorge in Anspruch genommen hat. Würde ich mich aus
dem Ausschuss zurückziehen, könnte ich keine konstruktive
Gesundheitspolitik mehr betreiben. Es muss aber möglich sein, auch als
Ausschussmitglied gegen ein Gesetz zu sein. Dann ist es das übliche
Vorgehen, dass man sich in der entscheidenden Ausschusssitzung vertreten
lässt, weil dieser Ausschuss ja die Mehrheit der Fraktion repräsentieren
soll. Die Fachberatungen waren abgeschlossen, an denen hatte ich
teilgenommen. Ich bedaure, dass das Abstimmungsverhalten im Ausschuss eine
solche Rolle gespielt hat, weil damit vom eigentlichen Ergebnis der Reform
abgelenkt wurde.
Rechnen Sie damit, dass Sie aus dem Ausschuss ausgeschlossen werden?
Das wird wohl nicht geschehen. Ich hielte das auch für sehr
bedenklich. Es würde bedeuten, dass die Ausschüsse künftig nicht mehr nach
Fachqualifikation besetzt werden, sondern nur noch in Bezug auf die Frage:
Sind das zuverlässige Ja-Stimmen.
Dem Gesundheitsexperten Horst Seehofer hat seine Partei schon mal
die Zuständigkeit entzogen mit der Begründung: Der trägt unsere Politik
nicht mehr mit.
Die zentrale SPD-Forderung in der Gesundheitspolitik ist die
Bürgerversicherung. Diese Position habe ich miterarbeitet und immer offen
mitrepräsentiert. Von diesem Konzept hat sich die SPD nicht verabschiedet.
Zu 90 Prozent weiche ich bei der Gesundheitspolitik nicht von der
SPD-Position ab. Ich glaube, dass das jetzt verabschiedete Gesetz von der
gesundheitspolitischen Position der SPD sehr viel weiter entfernt ist als
meine Kritik am Gesetz. Anders ausgedrückt: Meine persönliche
gesundheitspolitische Philosophie ist sehr viel näher an der
gesundheitspolitischen Überzeugung der Basis und der Mitte der Partei als
dieses Gesetz. Dieses Gesetz ist also die Abweichung, nicht mein Nein
dazu.
Sind Sie zu sehr Experte, um kompromissfähig zu sein?
Ich bin im politischen Geschäft erfahren genug, um zu wissen, dass Politik
die Kunst des Machbaren ist und ihre wichtigste Technik der Kompromiss.
Ohne Kompromiss keine Politik, auf allen Ebenen. Aber man muss vorsichtig
sein, dass man über den Kompromissen seine Glaubwürdigkeit nicht verliert.
Der Bürger darf nicht den Eindruck bekommen, dass alles kompromissfähig
oder alles verhandelbar wäre. In der Gesundheitspolitik haben wir bereits
den roten Bereich erreicht. Vielen drängt sich der Eindruck auf, dass
Gesundheitspolitik zunehmend von Lobbygruppen gemacht wird und immer
weniger Bürgerinteressen vertreten werden.
Ist das so?
Wie die Reform der privaten Krankenversicherung aussieht, wird viel
stärker von deren Verband bestimmt als von den privat oder gesetzlich
Versicherten. Die Kassenärztliche Vereinigung legt Details der
Honorarreform fest. Die Apothekerlobby verhindert, dass sich
verschreibungspflichtige Arznei im Preis unterscheiden darf. In der
Gesundheitspolitik mischen Lobbygruppen immer stärker mit, der Einfluss
des einzelnen Abgeordneten wird zurückgedrängt. Oft hat sogar die
Berichterstattung einzelner Medien größeres Gewicht für die politische
Entscheidungsfindung als die Meinung der Abgeordneten. Das kann dazu
führen, dass viele die Politik nur noch als Schmierenkomödie empfinden. Es
trägt zur Politikverdrossenheit bei, die dann genutzt werden kann von
Gruppen, die den demokratischen Prozess ganz infrage stellen.
Woran liegt das? An fehlendem Widerstand oder fehlendem
Sachverstand?
Die Lobbygruppen werden geschickter in der Beeinflussung. Ein Beispiel ist
das Vorgehen der Autolobby bei der Vermeidung von Flottenhöchstgrenzen für
CO2-Ausstoß. Auch hier sind Vorentscheidungen schon gefallen, bevor sich
die Öffentlichkeit mit dem Thema beschäftigen konnte. Lobbygruppen setzen
die Rahmenbedingungen für die Entscheidungsfindung. Das parlamentarische
Verfahren rüstet nicht ausreichend nach.
Wie könnte das geschehen?
Es wäre sinnvoll, wichtige Themen in den Fraktionen früher und
ergebnisoffener zu diskutieren – nicht erst, wenn es schon Vorfestlegungen
gibt. Sonst beschädigt man, wenn man dann noch davon abweicht, die an
diesen Vorfestlegungen Beteiligten.
Konnte man denn überhaupt annehmen, dass man mit der Union eine
Reform erreicht, die der SPD wirklich gefällt?
Wir hätten uns zum Beispiel darauf einigen können, dass die neu privat
Versicherten genau wie die gesetzlich Versicherten einen Solidarbeitrag in
den Fonds einzahlen. Und dass die Ärzte für privat und gesetzlich
Versicherte identische Honorare bekommen. Im Gegenzug wäre das
Geschäftsmodell der Privaten nicht verändert worden. Das wäre aus meiner
Sicht ein ordentlicher Kompromiss gewesen. Er hätte die
Zwei-Klassen-Medizin ein Stück weit zurückgenommen. Man hätte den Ärzten
einen Ausgleich für entgangene Privathonorare zahlen können, indem man die
für gesetzlich Versicherte etwas aufgestockt hätte. Das hätte auch von der
Union mitgetragen werden können.
Aber jetzt gibt es eine allgemeine Versicherungspflicht, einen
Basistarif, sogar noch höhere Steuerzuschüsse. Das sind doch auch schöne
SPD-Erfolge …
Man muss eine Reform auch danach bewerten, ob es besonders Betroffene
gibt, die wir hätten schützen müssen. Wenn der Fonds mit seinen
Kopfpauschalen kommt, sind vor allem Geringverdiener mit seltenen
Krankheiten die Verlierer.
Nennen Sie ein Beispiel.
Nehmen Sie den krankhaften Muskelschwund. Die Wahrscheinlichkeit, dass er
bei den 50 bis 80 Krankheiten im vorgesehenen Risikoausgleich enthalten
ist, ist sehr gering. Der Betroffene hat also doppelt Pech gehabt: Er muss
neben seinem Beitrag eine Kopfpauschale bezahlen, verliert also Geld. Und
die Krankenkassen interessieren sich nicht für ihn. Aus zwei Gründen: Er
produziert hohe Kosten, und es gibt dafür keine Ausgleichszahlungen.
Für andere Gruppen gibt es Vorteile …
Ja, für Einkommensstarke etwa ist der Basistarif eine deutliche
Verbesserung. Sie können sich nun ohne Risikoprüfung billiger als heute
versichern. Wir haben jetzt die absurde Situation, dass jemand, dessen
Gehalt knapp über der Versicherungspflichtgrenze liegt, bis zu 300 Euro im
Monat sparen kann, wenn er die gesetzliche Versicherung verlässt und in
einen privaten Basistarif wechselt. Und weil die Ärzte für ihn besser
bezahlt werden, kann er im Zweifelsfall sogar eine bessere Versorgung
erwarten. Wer sich trotz hoher Einkünfte freiwillig gesetzlich versichert,
wird dazu angehalten, das Solidarsystem zu verlassen. Wer bleibt, ist der
Dumme. Und wer nur knapp unter der Versicherungsgrenze liegt und auch
schon Höchstbeiträge bezahlt, hat keine Wechselmöglichkeit. Selbst wenn
man die Bürgerversicherung ablehnt, wird man das als Ungerechtigkeit
erkennen können.
Bürgerversicherung hier, Kopfpauschale da. Als Nächstes kommt die
Pflegereform. Geht der Ärger dann wieder von vorne los?
Das glaube ich nicht. Erstens ist die Pflegeversicherung auf der
Leistungsseite bereits jetzt eine Bürgerversicherung. Die Leistungen für
gesetzlich und privat Versicherte sind identisch. Und im Koalitionsvertrag
ist bereits festgelegt, dass sich die privat Versicherten am
Solidarausgleich beteiligen sollen.
Aber im Koalitionsvertrag ist auch die Rede von Kapitaldeckung.
Wenn ein Kapitalelement eingeführt wird, macht das nur kollektiv und nicht
individuell einen Sinn. Aus meiner Sicht ist auch ein kollektiver
Kapitalstock nicht nötig. Aber wenn er so aufgebaut wird, dass ihn alle
bezahlen und alle davon profitieren, ist das eine zweitbeste Lösung, mit
der man leben kann. Ich glaube, dass die Konflikte bei der
Pflegeversicherung wesentlich weniger scharf sein werden.
Wäre es nicht naheliegend, aus Frust über den Gesundheitskompromiss
bei der Pflege besonders kompromisslos aufzutreten?
Starke Gefühle wie Frustration oder Wut sind keine guten Wegbegleiter in
der Politik. Wir sollten nach vorne schauen, die Gesundheitsreform darf
das Klima bei der Pflege nicht vergiften. Wir brauchen einen kompletten
Neuanfang. Das gilt auch für den zweiten Teil der Gesundheitsreform. Bei
dem Erreichten handelt es sich ja um keine dauerhafte Lösung. Man muss
nüchtern aus Fehlern lernen, Emotionen dürfen keine Rolle spielen.
Sie waren einmal ein sehr einflussreicher Berater der
Gesundheitsministerin, jetzt sind Sie ein Fraktionsabweichler, der gerügt
wird. Haben Sie schon bereut, dass Sie ins Parlament gegangen sind?
Ich kann mich über fehlenden persönlichen Einfluss nicht beklagen. Einige
der Punkte, die mir sehr wichtig waren, sind ins Reformgesetz gekommen,
ich konnte das in den Verhandlungen mitbefördern. Etwa die Öffnung der
Krankenhäuser für bessere Krebsbehandlung, die deutliche Stärkung der
Vorbeugemedizin oder die Kosten-Nutzen-Prüfung von Arzneimitteln. Beim
Fachärztehonorar wird es auf meinen Vorschlag hin Qualitätszuschläge
geben. Und bei der Gesundheitsreform sehen wir doch gerade, wie
einflusslos Außenberatung geworden ist. Der Gesundheitsfonds wird von 95
Prozent meiner Fachkollegen in der Gesundheitsökonomie abgelehnt. Nein,
die Entscheidung in die Politik zu wechseln, habe ich nie bereut. Politik
wird im Parlament gemacht und nicht von Beratern.
Das Gespräch führten Robert Birnbaum und Rainer Woratschka. Das Foto
machte Thilo Rückeis.