"Ein Professor im
Häuserkampf"
(Ein Beitrag von Elisabeth Niejahr in der
Wochenzeitschrift DIE ZEIT vom 04.08.2005) Zum
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Ich verkaufe meine
Konzepte“
RAINER SCHMIDT, im Kölner
Stadt-Anzeiger vom 29.07.05
„Ich verkaufe nicht
meine Person, ich verkaufe nicht meine Partei, ich verkaufe meine Konzepte
zu wichtigen Sachthemen“, erklärte gestern der sozialdemokratische
Bundestagskandidat für den Wahlkreis 102 Leverkusen / Köln-Mülheim bei
einem Pressegespräch. Ausschließlich mit Argumenten wolle er den Wahlkampf
bestreiten, Polemik gegenüber den Kandidaten anderer Parteien werde es von
ihm nicht geben, persönliche Angriffe schon gar nicht.
Wahlkampf-Themen
Bürgerversicherung,
Vorschule, offene Ganztagsschule, die Zukunft der Pflegeversicherung, der
Rentenversicherung, Arbeitsmarktreformen und schließlich eine Vision über
die Zukunft des Sozialstaats insgesamt. Das sind die Themen, mit denen
Lauterbach den Wahlkreis gewinnen will. „Und ich muss ihn gewinnen“, sagt
der Kölner Gesundheitsprofessor, „denn ich habe keinen brauchbaren
Listenplatz, habe mich auch um keinen bemüht.“
Der Gesundheitsökonom,
der zehn Jahre lang in den USA gelebt und geforscht hat, erklärt, warum er
jetzt auch offiziell in die Politik gehen will: „Alles was wir erforschen,
hat politische Folgen“. Deshalb sei er in den letzten Jahren immer mehr
zum Berater von Politikern geworden, zunächst bei Andrea Fischer, der
früheren grünen Bundesgesundheitsministerin und jetzt bei der aktuellen
sozialdemokratischen Amtsinhaberin Ulla Schmidt. So sei er immer mehr ins
politische Geschäft gekommen, insofern halte er es für konsequent, jetzt
auch ganz offiziell in die Politik zu gehen.
In amerikanischen
Büchern hat Lauterbach sich über Wahlkampfstrategien schlau gemacht, und
manches übersetzt er wörtlich: Was andere vielleicht Basisarbeit oder
Klinkenputzen nennen, heißt bei ihm Bodenkrieg. In vermutlich dennoch
friedlicher Absicht will der Kandidat auf die Wähler zugehen und sich
nicht darauf verlassen, dass sie seine Veranstaltungen besuchen. Vereine,
Gartenfeste, Kirmesplätze, niemand soll in den nächsten acht Wochen vor
ihm sicher sein. Gleich heute will sich Lauterbach auf der Opladener
Kirmes zeigen.
Auf die Frage, ob er
sich in Leverkusen auskenne, reagiert der Kandidat leicht gereizt. „Ich
kenne den Wahlkreis besser, als mir immer unterstellt wird.“ Das ärgere
ihn. „Ich kenne fast jedes Krankenhaus“, sagt er, und zudem seien seine
Themen auch für die Menschen in Leverkusen von größter Bedeutung. Auf die
Wahlkreisarbeit freue er sich. Es sei doch ein Vorteil, wenn ein
Wissenschaftler seine Ideen in Gesprächen an der Basis testen könne.
Neben der Basisarbeit
bedarf es natürlich auch prominenter Namen aus Berlin. Der SPD-Spitze sei
klar, dass Leverkusen /Köln-Mülheim ein Schlüsselwahlkreis sei und
gewonnen werden müsse. Der Leverkusen-Auftritt von SPD-Generalsekretär
Klaus Uwe Benneter ist bereits fest für den 9. August terminiert.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wird kommen, und Ottmar Schreiner wird
Leverkusen ebenso besuchen wie Peer Steinbrück. In Köln-Mülheim bietet
Lauterbach zudem Renate Schmidt, Franz Müntefering und Siegmar Gabriel
auf. Keiner der Berliner Spitzengenossen habe ihm „Nein“ gesagt. „Alle,
die ich gefragt habe, kommen auch.“
Wenn das stimmt, dann
hat er den Bundeskanzler nicht gefragt. „Das ist richtig“, bestätigt Karl
Lauterbach.
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M E D I Z I N - Der Arzt als Politikum
Karl Lauterbach ist der
wichtigste gesundheitspolitische Berater der Regierung. Damit macht der
Mediziner sich unter Kollegen nicht nur Freunde
von Elisabeth Niejahr in
"Die Zeit vom 30.07.2005
Meistens passierte es beim Fußball,
Handball oder Tischtennis. Der schlaksige Junge aus Düren brach sich
mehrfach die Arme, den Fußknöchel, einmal sogar das Nasenbein. "Mein
Ehrgeiz war leider größer als mein sportliches Können", erinnert sich Karl
Lauterbach. Aber er machte weiter. Ständig lag er damals im Krankenhaus.
Inzwischen ist der 39-Jährige selbst
Mediziner - und sein Ehrgeiz und sein Duchhaltevermögen haben dem
Gesundheitsökonomen aus Köln zu einem rasanten Aufstieg verholfen:
Lauterbach, der meist durch Fliege und akkuraten Seitenscheitel auffällt,
ist einer der einflussreichsten Wissenschaftler im Dunstkreis der
rot-grünen Bundesregierung. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nutzt, duzt
und schätzt ihn, viele Parlamentarier suchen regelmäßig seinen Rat. Gerade
erst baten ihn auch die Spitzengewerkschafter von ver.di um Unterstützung
für ein sozialpolitisches Konzept. "Immer dort, wo ein
gesundheitspolitisches Podium zu besetzen ist, findet sich ein Schild mit
seinem Namen", schrieb die
Ärzte-Zeitung kürzlich. "Karlchen Überall"
nennt ihn ein Branchendienst.
Lauterbach gehört zu jenen Grenzgängern
zwischen Politik und Wissenschaft, die oft mehr bewegen als mancher
Fachpolitiker - durch Gutachten, Zeitungsinterviews und
Talkshow-Auftritte, durch offene und verdeckte Ratschläge an die Politik.
Die Art und Weise, wie Lauterbach das tut, hat ihm neben Respekt
allerdings auch viel Missbilligung eingebracht. Er sei zu nahe an der
Politik und damit unwissenschaftlich, sagen Kollegen naserümpfend. Andere
dagegen attestieren dem Kölner, er habe gerade mit seiner forschen Art
viel bewegt.
Darf ein Experte
Partei ergreifen?
Nicht einmal vier Jahre sind vergangen,
seit Lauterbach in den wichtigsten gesundheitspolitischen Beraterzirkel
der Bundesregierung berufen wurde, den Sachverständigenrat für die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Der Zeitpunkt war günstig, denn
in der Folgezeit gewann der Rat deutlich an Gewicht. Ein Gutachten über
das Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen
fand große Resonanz. Immer mehr Deutschen wurde klar, dass es um ihr
Gesundheitswesen schlechter bestellt ist, als Vertreter aller Parteien oft
behauptet hatten.
Dass die Kosten höher sind als bei
vergleichbaren Industrienationen und die Versorgung dabei gerade mal
durchschnittlich ist - mit dieser Botschaft erregten die Wissenschaftler
in jenen Tagen Aufsehen. Um die Schieflage zu ändern, empfahl der
Sachverständigenrat einen radikalen Schritt: Die Politik müsse mehr
Verantwortung übernehmen und weniger Aufgaben auf Ärzte und Krankenkassen
abwälzen. "Die großen Akteure im Gesundheitswesen bestimmen ihre
Spielregeln selbst, zulasten der Patienten", warnten die fünf Fachleute.
Damals war Lauterbach, der Leiter des Instituts für Gesundheitsökonomie
und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln, in der öffentlichen
Wahrnehmung allerdings noch einer von mehreren Experten.
Das änderte sich, als er wenig später mit
anderen, durchweg SPD-nahen Experten ein aufwändiges
gesundheitspolitisches Gesamtkonzept vorstellte: eine Art Blaupause für
eine große Gesundheitsreform in der nächsten Legislaturperiode - eine
Auftragsarbeit des SPD-Parteivorstandes. Lange sind sich die
Sozialdemokraten über ihren gesundheitspolitischen Kurs nicht völlig klar
gewesen. Das Expertenpapier - offiziell wurde es für die
Friedrich-Ebert-Stiftung vorgelegt - nahm einiges vorweg, was sich später
auch im Wahlprogramm wiederfand.
Einige besonders weitgehende Vorschläge,
vor allem eine faktische Entmachtung der ärztlichen Selbstverwaltung
zugunsten der Krankenkassen, machte sich die Politik allerdings nicht zu
Eigen. Als Anfang August die Experten ein weiteres, etwas konkreteres
Papier vorlegten, distanzierte sich Ulla Schmidt: Mit dem Vorschlag etwa,
neue Einnahmequellen zu erschließen und beispielsweise auch Kapitalerträge
mit Sozialabgaben zu belegen, waren die Ministerin und ihre Partei nicht
einig.
Dennoch tat die Berliner Opposition, als
sei speziell Lauterbach ein halbes Kabinettsmitglied. Lauterbach habe die
"wahren SPD-Pläne" formuliert, hielt der frühere Gesundheitsheitsminister
Horst Seehofer (CSU) seiner Nachfolgerin Schmidt in einem Fernsehduell
vor. Zudem wettert er im Wahlkampf ständig gegen die "Expertokratie" der
rot-grünen Gesundheitspolitik - und meint damit vor allem Lauterbach.
Angesichts solch eindeutiger Verortung
forderte der soeben zurückgetretene Vorsitzende des
Gesundheits-Sachverständigenrates, Friedrich Wilhelm Schwartz, kürzlich in
einem Interview eine "Äquidistanz der Ratsmitglieder zur Politik". Der
hannoversche Medizinprofessor nannte dabei keine Namen, aber viele sahen
das als Ermahnung an Lauterbach. Schwartz selbst verweist auf das Beispiel
des heutigen Parlamentariers Martin Pfaff. Der Sozialdemokrat sei ganz
selbstverständlich aus dem Expertenzirkel ausgetreten, als er in den
Bundestag gewählt wurde.
Für Schwartz gibt es natürliche, kaum
überwindbare Gegensätze zwischen Politik und Forschung. "Ein
Wissenschaftler wird nur in wenigen Fällen zu glasklaren Heilsversprechen
bereit sein, ein Politiker oft dazu neigen", sagt er. Dem seriösen
Forscher falle es normalerweise schwer, bei hoch komplexen Problemen zu
einfachen Aussagen zu kommen. Der Politiker brauche gerade das. "Ein
Politiker lebt von Optimismus, ein Wissenschaftler von Genauigkeit. Oft
verträgt sich beides nicht." Lauterbach sieht das völlig anders. Auch
Politiker brauchten Genauigkeit, Realitätssinn und Skepsis,
unterschiedlich sei allenfalls die Kommunikation.
Hinter dem Konflikt steht ein
gegensätzliches Verständnis davon, wie Politikberatung im Idealfall
funktioniert. Dabei geht es kaum um Inhalte - und auch nicht in erster
Linie um Lauterbachs politisches Profil. Wenn Politiker, Journalisten oder
Professoren entweder sehr anerkennend oder sehr abfällig über Lauterbach
reden, geht es meist nicht darum, was er sagt, sondern wie er das tut.
Wie kaum ein anderer Wissenschaftler
versteht er sich als Dienstleister für die Politik, der er bei
inhaltlichen, konzeptionellen, gelegentlich sogar mathematischen Engpässen
hilft. Ein ähnliches Selbstverständnis hat allenfalls noch der SPD-nahe
Sozialexperte Bert Rürup, mit dem Lauterbach befreundet ist. Auch Rürup,
einer der fünf Wirtschaftsweisen, ist ein Pragmatiker mit viel Sinn für
Techniken und Zwänge im politischen Geschäft.
Für Lauterbach ist selbstverständlich, mit
jedem neuen Vorschlag auch Kostenrechnungen zu präsentieren. Für Ulla
Schmidt kalkuliert er auch mal rasch die finanziellen Folgen eines neuen
Gesundheitsvorschlags des Unions-Fraktionschefs Friedrich Merz,
Abgeordneten gibt er Tipps für die Formulierung von Rechtsverordnungen.
Gelernt hat er das während seines
neunjährigen Studien- und Arbeitsaufenthalts in den Vereinigten Staaten.
Mit 23 ging der damalige Medizinstudent in die USA, erst nach Arizona,
dann nach Texas, schließlich an die Harvard School of Public Health. Dort
musste Lauterbach zwei Techniken üben, die in der deutschen
Medizinerausbildung kaum vorkommen: gesundheitsökonomische Berechnungen -
und die Kunst, verständlich zu formulieren. "Knapp, damit es überhaupt
gelesen wird. Klar, damit man es versteht. Mit Bildern, damit es im
Gedächtnis hängen bleibt", erzählt er stolz.
Die Illusion der
reinen Forschung
Erst 1995 folgte ein Ruf an die Kölner
Universität, um dort die Institute für Gesundheitsökonomie und klinische
Epidemiologie aufzubauen. Lauterbach wusste praktisch nichts über deutsche
Politikberatung, vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen hatte der damals 33-Jährige nie gehört. Aber er hatte in
Harvard erlebt, dass gerade die berühmtesten Professoren regelmäßig die
Regierung berieten. Ihn hatte beeindruckt, dass dies, anders als in
Deutschland, in der Zunft keineswegs als ehrenrührig oder
"unwissenschaftlich" galt. Und er lernte schnell.
"In Deutschland existiert diese romantische
Illusion der reinen, von Interessen und politischen Grundhaltungen völlig
losgelösten Forschung, die es so gar nicht geben kann", sagt Lauterbach.
Die Folge sei, dass Wissenschaftler mit ihrer politischen Präferenz meist
hinterm Berg hielten, was er für einen Nachteil hält: "Auf diese Weise
sind Interessenkonflikte nicht transparent." Er selbst machte nie ein Hehl
aus seiner Nähe zur SPD, kürzlich warb er sogar bei einer
SPD-Veranstaltung mit Parteigeneralsekretär Franz Müntefering ausdrücklich
für Gerhard Schröders Wiederwahl.
Lauterbach schließt auch nicht aus, selbst
irgendwann in die Politik zu wechseln. Eigentlich sei seine heutige Rolle
für ihn ideal, sagt er. "Aber ein Politikberater sollte grundsätzlich
bereit sein, seine Ideen auch selbst umzusetzen. Sonst verliert er an
Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft." Solche Überlegungen sind vielen
deutschen Professoren ziemlich fremd. Insofern lehrt der Unmut, den der
Kölner Gesundheitsökonom provoziert, mindestens so viel über den hiesigen
Wissenschaftsbetrieb wie über ihn. Viele Parlamentarier hingegen wünschen
sich mehr Berater vom Schlage Lauterbachs. "Wir haben ihm viel zu
verdanken", sagt der Sozialdemokrat Klaus Kirschner, der sich als
Vorsitzender des Gesundheitsausschusses in den vergangenen vier Jahren mit
der Gesetzgebungskleinarbeit abgemüht hat. Oft hat Kirschner mehrmals
täglich mit Lauterbach telefoniert. "Ohne seine Hartnäckigkeit", so
Kirschner, "wären wir zum Beispiel bei den Chronikerprogrammen für
Brustkrebs- und Diabetes-Patienten längst noch nicht so weit." |